Warum haben wir so wenige Bücher von Frauen?

Wir Bücher*innen haben nachgezählt

Jana bezeichnet sich selbst als Feministin – der Inhalt ihres Bücherregal lässt jedoch anderes vermuten. Nur rund 21% ihrer Bücher sind von Frauen geschrieben. Fragt man Jana, woran das liegt, ist sie ratlos: es ist ihr vorher noch nicht aufgefallen. Sie achte beim Kauf nicht darauf, ob eine Frau oder ein Mann das Buch geschrieben hat. Wenn sie also keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern macht, wie kann es trotzdem sein, dass sie so wenige Bücher von Frauen besitzt? Liegt es an Jana?

Leider nein. Sie ist kein Einzelfall, wie eine kleine Umfrage in unserem erweiterten Bekanntenkreis zeigt: die Mehrzahl der Befragten besitzt weniger Bücher, die von einer Frau geschrieben wurden. Besteht also ein größeres Problem?

Werden Frauen in der Literaturlandschaft diskriminiert?

Oder schreiben sie einfach Bücher zu Themen, die nur eine kleine Gruppe Leser*innen ansprecht? Sind Männer einfach präsenter und erhalten den großen Medienrummel, wenn ihr Buch erscheint? Werden die Käufer*innen im Handel automatisch zu Büchern von Autoren geleitet? Und Bücher von Frauen versauern in der letzten Ecke?

Wir Bücher*innen wollen diesen Fragen auf den Grund gehen und herausfinden, was Jana ändern könnte, um mehr Diversität in ihr Regal zu bringen.

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Eine kleine Umfrage

Umfrage: Anteil von Bücher von Autorinnen

Bild: Statistik der Umfrage unter Freund*innen und Bekannten über deren Regale.
Wer hinter diesen Zahlen steckt, könnt ihr hier nachlesen.

Marktanalyse

Wir stellten uns die Fragen: Wie viele Bücher von Männern und Frauen gibt es eigentlich auf dem deutschen Markt? Wie kommt man an diese Informationen? Was sagen die Verlage und Autorinnen dazu?

Grafik: Anteil Männer und Frauen beim Suhrkamp Verlag

„Bei uns gibt es nur ein publikationsentscheidendes Kriterium: Die Qualität des Textes. Geschlecht, Alter, Hautfarbe usw. sind für unsere Entscheidungsprozesse irrelevant.“ – Tanja Postpischil, Suhrkamp Verlag

Grafik Veröffentlichungen S. Fischer

„Wichtig ist uns ein möglich facettenreiches Programm mit unterschiedlichen Positionen, Erzählweisen, Themen, Leidenschaften und literarischen Temperamenten. Die aktuellen Bücher politischer junger Autorinnen spielen dabei natürlich eine wichtige Rolle.“ – Julia Giordano, S. Fischer Verlag

Wie sehen das die Autorinnen?

„Ich schreibe gerade meinen Debütroman, in dem viele weibliche Charaktere vorkommen. Ich habe Angst, dass mein Buch deswegen in die Romantik-Ecke gedrängt wird. Literatur für Frauen muss sich immer darum drehen.“

– Anonyme Nachwuchsautorin

„Autorinnen sollen möglichst jung und skandalös sein. Da wird viel Wert auf Vermarktung gelegt. Aber ich möchte mich nicht in Klischees einzwängen lassen.“

– Anonyme Autorin

„Frauen müssen sich mehr zutrauen!“

– Gabriele Diechler, Drehbuch- und Romanautorin

Welche Erfahrungen einen die Autor*innen? Was haben sie ganz unterschiedlich erlebt? …

Mediale Aufmerksamkeit und Auszeichnungen

Wie erfahren wir, welches Buch besonders lesenswert ist? Jana wählt ihre Bücher oft auf Empfehlung anderer aus. Die Tipps kommen meist aus ihrem persönlichen Umfeld, zum Beispiel von ihren Freund*innen. Mit diesen tauscht sie sich gerne aus. Jana erkundigt sich aber auch in den Medien zu neu erscheinenden Büchern. Egal, ob klassisch in Zeitungen und Zeitschriften, im Web, Radio oder Fernsehen – in allen Medienformen gibt es Literaturformate, die erklären, welches Buch man kaufen oder welches man auf gar keinen Fall kaufen sollte.

Die Redaktionen wählen die Bücher, über die sie Kritiken schreiben, bewusst aus: sie selektieren aus einer enormen Zahl von frisch erschienener Literatur die Werke, die es besonders wert sind, besprochen zu werden. Doch bei dieser Auswahl spielt anscheinend nicht nur der Inhalt der Bücher und dessen Qualität eine Rolle, sondern auch das Geschlecht der Verfasser*innen.

Rezensionen: Frauen sind in der Unterzahl

Frauen sind in Rezensionen deutlich weniger sichtbar als Männer. Auf zwei rezensierte Autoren kommt nur ein rezensiertes Werk einer Autorin. Männer sind somit doppelt so häufig wie Frauen in Buchrezensionen vertreten. Zu diesem Ergebnis kam die Studie zur Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb des Projektes #frauenzählen. Das verbandsübergreifende Forschungsprojekt wurde gemeinsam mit dem Institut für Medienforschung der Universität Rostock durchgeführt. Im Verlauf des Monats März 2018 – im Rahmen der Leipziger Buchmesse – wurden in 69 deutschen Medien in den Bereichen Print, Hörfunk und Fernsehen 2.036 Rezensionen statistisch erhoben und sozialwissenschaftlich ausgewertet. Die Auswahl der Medien erfolgte im Sinne eines repräsentativen Abbilds des deutschen Journalismus. Studienautor*innen erhoben das Geschlecht der Autor*innen, das literarische Genre des besprochenen Werkes, das Geschlecht der Rezensierenden, die Länge der Buchbesprechungen in Zeichen bzw. Sekunden und ob es sich um eine Original- oder Lizenzausgabe handelt. In allen Medien, mit Ausnahme von Frauenzeitschriften, wurden Autoren bei Rezensionen eine häufigere und umfänglichere Aufmerksamkeit entgegengebracht, so die Studie.

„Auf zwei Männer kommt eine Frau“

Dieses Ungleichgewicht gilt mit einer Ausnahme für alle Buchgenres gleich. Lediglich bei der Kinder- und Jugendliteratur sind Autorinnen gleichrangig vertreten. Autoren dominieren hingegen die Genres Sachbuch und vor allem Kriminalliteratur. Laut der Studie, wiesen diese literarischen Genres damit eine deutliche geschlechterspezifische Zuschreibung auf. Bei den Genres Fantasy, Comics und Lyrik sowie Dramatik sie das Verhältnis zwar ebenfalls drastisch, die Studienautor*innen gaben jedoch an, dass diese Genres nur gering rezensiert worden seien und damit keine generalisierende Aussage getroffen werden könne.

Rezensionen: Von Männern über Männer

Die Mehrzahl der untersuchten Kritiken wurden von Männern verfasst. Laut der Studie, kamen auf vier von Männern verfassten Kritiken drei von Frauen. Die Kritiker besprachen zudem mit 74 Prozent überwiegend männliche Autoren. Nur jedes vierte von einem Mann rezensierte Buch wurde damit von einer Frau verfasst. Bei Kritikerinnen ist dieses Verhältnis deutlich ausgewogener. Die Redakteurinnen besprechen mit 56 Prozent geringfügig mehr Autoren als Autorinnen.

Hierbei gelten jedoch wiederum Unterscheidungen bei den besprochenen Buchgenres. Bei Sachbüchern war nur jedes fünfte von einem Kritiker besprochene Werk von einer Frau. Noch eindeutiger sind die Ergebnisse bei Kriminalliteratur: 82 Prozent aller von Männern verfassten Rezensionen thematisieren das Buch eines Autors. Frauen besprechen laut der Studie auf das Geschlechterverhältnis bezogen (mit Ausnahme der Kriminalliteratur) deutlich ausgewogener. Ein ausgeglichenes Verhältnis zeigt sich wieder mal nur bei der Kinder- und Jugendliteratur.

„Männer schreiben mehr über Männer. Und Frauen? Meistens auch.“

Zudem waren die von Männern verfassten Besprechungen deutlich ausführlicher als die von Frauen. Kritiker räumten den Werken von Autoren einen größeren Raum ein, womit sich die Sichtbarkeit von Autoren zusätzlich verstärkte. Besonders im TV-Bereich seien Autoren sichtbarer gewesen: Während die Werke von Frauen im Durchschnitt 580 Sekunden lang besprochen wurden, betrug die Länge bei Autoren 931 Sekunden. Die durchschnittliche Sendezeit zu Werken von Männern übertreffe die von Autorinnen um 38 Prozent. Im Radiobereich seien Frauen zwar seltener, aber dafür etwas länger präsentiert worden.

Die Studienautor*innen erkennen in ihrer Auswertung eine „strukturell nachweisbare, geschlechterbezogene Voreingenommenheit im Literaturbetrieb“. Dies decke sich mit den Ergebnissen anderer Studien zu Geschlechterverhältnissen in den Medien.

Weniger Literaturpreise für Frauen?

Preisverleihungen und Auszeichnungen sind für Autor*innen von besondere Bedeutung. Denn diese können maßgeblichen Einfluss auf die Verkaufszahlen ihrer Bücher und ihren eigenen Bekanntheitsgrad haben. Ganz nebenbei ist meist auch noch ein ordentliches Preisgeld in Aussicht. Um eine größere Chance zu haben, einen dieser begehrten Preise zu gewinnen, sollte man jedoch männlich sein. Die anschließende Analyse der vier bekanntesten Literaturpreise in Deutschland zeigt, dass die Präsenz von Frauen in den letzten Jahren zwar zugenommen hat, jedoch zumeist ein Ungleichgewicht vorherrscht. Ein Grund hierfür scheint die geschlechterunausgeglichene Zusammenstellung der Jurys zu sein.

Georg-Büchner-Preis

Der renommierteste und höchstdotierteste  Literaturpreis im deutschen Sprachraum ist der Georg-Büchner-Preis. 1923 erstmals verliehen, wurden mit dem Preis zunächst bildende Künstler und Schriftsteller*innen (tatsächlich waren zwei Schriftstellerinnen darunter) ausgezeichnet. Seit 1951 handelt es sich um einen reinen Literaturpreis, der jährlich von der „Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung“ an Autor*innen verliehen wird, die „durch ihre Arbeiten und Werke in besonderem Maße hervortreten und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben“. Das trifft jedoch augenscheinlich fast ausschließlich auf Autoren zu: Denn nur 16 Prozent der Preisträger*innen seit 1951 sind weiblich. Zwar Stieg die Anzahl der ausgezeichneten Frauen in den letzten 20 Jahren, liegt in dieser Zeitspanne jedoch nur bei mageren 27 Prozent. Ein Blick in die Übersicht der (noch lebenden) Mitglieder der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zeigt, dass dort eine ähnliche Geschlechterverteilung vorliegt: lediglich 26% der derzeitigen Mitglieder sind Frauen. Bei dem geringen weiblichen Mitgliederanteil verwundert es kaum, dass das Präsidium der Akademie, das die Jury für den Georg-Büchnerpreis (gemeinsam einem*r Vertreter*in der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt) bildet, ebenso schlecht aufgestellt ist. Der durchschnittliche Anteil von Frauen im Präsidium seit 1950 bis heute beträgt nur 12 Prozent. Ein Trend, der sich erst ab 2014 änderte. Seit 2020 sind erstmals mehr Frauen als Männer im Präsidium vertreten.

Deutscher Buchpreis

Eine weitere wichtige und öffentlichkeitswirksame Auszeichnung ist der Deutsche Buchpreis. Dieser wird seit 2005 jährlich im Rahmen der Frankfurter Buchmesse vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels vergeben. Die Auswertung der bisher ausgetragenen Wettbewerbe zeigt, dass durchschnittlich nur 35 Prozent der Longlist-Nominierten Frauen sind. Die Tendenz scheint jedoch zu mehr Vielfalt zu gehen: 2018 und 2019 waren erstmals mehr Werke von Frauen auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Auf die Shortlist schafften es seit 2005 durchschnittlich 36 Prozent Frauen. Beachtlich ist, dass trotz der geringeren Anzahl von nominierten Frauen das Verhältnis der Preisträger*innen bis zum Jahr 2020 ausgeglichen ist: acht Gewinnerinnen zu acht Gewinnern. Dieses Gleichgewicht kann als Zeichen gesehen werden, dass Literatur von Frauen der von Männern in keiner Weise qualitativ nachsteht. Seit 2010 ist das Geschlechterverhältnis in den Jurys ebenfalls ausgeglichen; in den Jahren zuvor waren sie stark Männer dominiert.

Preis der Leipziger Buchmesse

Ähnlich wie beim Deutschen Buchpreis, befinden sich auf der Liste der Nominierten in der Kategorie Belletristik des Preises der Leipziger Buchmesse durchschnittlich nur ein Drittel Frauen. Das Verhältnis bei den letztlichen Gewinner*innen sieht eine ähnliche Tendenz vor. Auf elf Preisträger kommen lediglich fünf Preisträgerinnen. Die Jury ist mit einem durchschnittlichen Wert von 43 Prozent weiblichen Mitgliedern verhältnismäßig ausgeglichen.

Ingeborg-Bachmann-Preis

Benannt nach der österreichischen Schriftstellerin, wird der Ingeborg-Bachmann-Preis seit 1977 jährlich in Klagenfurt verliehen. Die vorausgewählten Bewerber*innen treten in einer dreitägigen Lese-Veranstaltung nacheinander an und tragen etwa 25 Minuten lang bislang unveröffentlichte Prosatexte oder Ausschnitte auf Deutsch vor. Ziel ist es, das Saalpublikum sowie die Fach-Jury von der Qualität der vorgetragenen Texte zu überzeugen. Bis 1997 nominierten männlich dominierte Jurys weit überwiegend männliche Autoren. Das zeigen die Auswertung von Gudrun Lerchbaum für das Forschungsprojekt #frauenzählen. Seitdem herrscht in den Jurys ein ausgeglicheneres Geschlechterverhältnis, woraufhin auch mehr Frauen für den Preis nominiert wurden. Seit 2012 stellen sie mindestens die Hälfte der Nominierten.

Auch im internationalen Wettstreit zeigt sich, wie unausgeglichen Literaturpreise vergeben werden: Laut der Nobel Foundation waren in den Jahren von 1901 bis 2020 lediglich 13,7 Prozent der Literaturnobelpreisträger*innen weiblich.

Buchhandel

Und jetzt?

Vorher

Jana hat während der Recherche viel über den Literaturbetrieb gelernt. Wie fast überall in der Gesellschaft gibt es in der Welt der Bücher an vielen Stellen Filtermechanismen, die die Hürden für Frauen zu erhöhen scheinen. Dem möchte sie gerne Rechnung tragen.

Nicht, indem sie keine Bücher mehr von Männern liest. Die Bücher, die sie interessieren, wird sie auch weiterhin kaufen. Doch sie geht in Zukunft davon aus, dass sie die Bücher von Frauen genauso gerne lesen würde und sie nur schwerer zu finden sind. Macht man sich bewusst, dass es Frauen an manchen Stellen schwerer haben, erkennt man, was einem entgeht, wenn man sich nur an Rezensionen, Literaturpreisen und Bestsellerlisten entlang hangelt.

Jana wünscht sich, dass sich die ganze Gesellschaft in all ihrer Vielfalt in ihrem Regal widerspiegelt. Sie will alle Perspektiven kennenlernen.

Sie will, dass sich ihr Bücherregal weiterentwickelt.

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